2012. Etwas geht zu Ende, auf der anderen Seite beginnt etwas Neues. 2011 hat verändert, war prägend und hat uns viele beeindruckende Erlebnisse gegeben. Wir haben Abitur geschrieben, die Schule abgeschlossen und sind in eine neue Welt eingetaucht. Wir haben uns dafür entschieden nicht sofort an einer Universität zu studieren sondern stattdessen eine neue Kultur kennen zu lernen. Fern von dem bisher bekannten und uns so vertrauten Lebensstandard. Erkenntnisse, Begegnungen und Eindrücke, mit all dem hat uns Indien erwartet und auf ganz unerklärliche Weise in seinen Bann gezogen. Die Hälfte unseres Aufenthalts ist bereits vorbei und es erstaunt uns immer wieder, wie schnell die Zeit verfliegt, als wäre es eine andere Zeitrechnung in einer anderen Welt. Eine Welt, die voller Kontraste steckt, die uns beeindruckt, verwundert, erfreut und im nächsten Moment erschreckt, mitreißt und nicht zu selten komplett überwältigt. Wir freuen uns auf die nächsten Wochen, in denen uns sicherlich noch einmal genauso viel Erstaunliches, Faszinierendes und Außergewöhnliches begegnen wird.
Wir fahren in die Berge Coimbatores. Auf Gopanari, der Kokosnussfarm, wohnen für einige Tage Studenten für Soziale Arbeit, um das Leben der Ureinwohner besser kennen zu lernen. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu dem naheliegenden Dorf. Es ist ruhig und die Stille ist eine willkommene Abwechslung zu dem sonst doch so lauten und chaotischem Indien. Im Dorf selbst sind kaum Bewohner, Männer und Frauen arbeiten auf den umliegenden Feldern oder treiben das Vieh umher, die Kinder sind den Vormittag in der Schule. Unser Weg führt durch das Dorf hindurch auf einen Feldweg. Einer der Studenten erklärt, dass wir heute einige Bäume pflanzen werden. Die Dorfbewohner sind auf die Kultivierung verschiedenster Pflanzen und Früchte angewiesen und so unterstützen wir sie ein wenig durch unser Vorhaben. Die angeblich kurze Wanderung entwickelt sich zu einem fast zweistündigen Spaziergang durch das Bergland. Wir laufen vorbei an Bananenstauden, passieren einen kleinen Fluss und stapfen durch hohes Gebüsch. Es ist die pure Natur und ein wunderschöner Ausblick erstreckt sich vor unseren Augen. Ganz nebenbei erzählt man uns, dass in dem hohen Gras häufig Schlangen leben könnten und wir laufen den Rest des Weges doch etwas vorsichtiger als vorher, jeder von uns mit einem kleinen Bäumchen in der Hand. An einem kleinen bewachsenen Feld beginnen wir mit dem Pflanzen. Loch buddeln, Baum hineinsetzen, das Loch wieder mit Erde verschließen, bewässern. Obwohl es nur eine kurze Prozession ist, ist es irgendwie doch ein schönes Gefühl einen kleinen Mangobaum gepflanzt zu haben, der in drei bis vier Jahren Früchte tragen wird. :-) Auf dem Rückweg halten wir an einem kleinen Bauernhäuschen an. Ein schmaler ordentlich angelegter Steinweg führt zu einem kleinen niedrigen Haus, dessen Strohdach reicht über eine Terrasse, auf der man gemütlich sitzen kann. Um sich dorthin zu setzen, muss man sich bücken und auch in das Innere des Hauses gelangt man nur, wenn man den Kopf einzieht. Links neben dem Haus erstreckt sich ein Feld von Bananenstauden, davor ist ein kleiner Garten mit vielen bunt blühenden Blumen. Ein Brunnen dient zur Bewässerung, ein großer Baum sorgt für Schatten. Idylle. Ganz fasziniert von diesem kleinen schönen Fleckchen Erde setzen wir uns zu den Menschen, die dort arbeiten. Es ist ein Bauer mit seiner Frau und dessen Schwester. Sofort bietet man uns Tee an und mithilfe der Studenten können wir uns ein wenig mit ihnen unterhalten. Der Bauer erzählt, dass oft Elefanten in diesem Gebiet seien, vor allem nach sechs Uhr abends, wenn es dunkel werde. Wohnen könne man hier deshalb nicht, es sei zu gefährlich. Aber tagsüber komme er zum Arbeiten her. Manchmal finde er Elefantenspuren auf dem Bananenfeld und vor kurzem habe ein Elefant sogar drei Stauden aus der Erde gerissen und mitgenommen. Wir sitzen dort bei 35 ° C auf der Strohmatte, die man uns gegeben hat, unter dem Vordach des Bauernhäuschens und sind irgendwie in einer ganz anderen Welt. Wir genießen die Zeit in dieser naturbelassenen Umgebung sehr. Die indischen Studenten haben es offensichtlich eiliger als wir und deswegen machen auch wir uns auf den Weg und verabschieden uns. Nachdem wir unter dem um das Haus gespannten Draht, der die wilden Elefanten abhalten soll, hindurch geklettert sind, laufen wir wieder zurück in das Dorf der Ureinwohner.
Unsere 29 Mädchen gehen insgesamt auf fünf verschiedene Schulen. Die Kleinsten besuchen die im Dorf liegende Grundschule, die Mädchen von der 6. bis zur 8. Klasse besuchen die weiterführende Schule, die ebenfalls im Dorf ist. Nach dem Frühstück um halb neun begleiten wir sie täglich zur Schule, jede von uns zwei Mädchen an der Hand. Bis jetzt haben wir die beiden Schulen in unserem kleinen beschaulichen Dorf Kalappanaickenpalayam nur von außen gesehen, es interessiert uns aber sehr, wie ein indischer Schultag abläuft. Also führt unser Weg eines Tages in die Grundschule, auf die vier Kinder des Abhaya Students Shelters gehen. Wir erklären kurz, dass wir gerne in jede Klasse hineinschauen würden, um einen Gesamtüberblick zu bekommen. Insgesamt gibt es zwei Schulgebäude, in dem ersten befinden sich unten zwei Räume, im Obergeschoss weitere zwei. Wir betreten den ersten Raum, 1. und 2. Klasse wurden zusammen gefasst, viele erstaunte Augenpaare schauen uns an, alle Kinder tragen ihre kleine Schuluniform, die Mädchen eine weiße Bluse, einen blauen Rock und fein säuberlich geflochtene Zöpfe, die Jungs tragen ein weißes Hemd und eine blaue oder olivgrüne Hose.
Sie sitzen in Gruppen auf Strohmatten auf dem Boden. An zwei Wänden des Klassenraums sind große Tafeln montiert, davor stehen Tische mit vielen mit Karten gefüllten Boxen, quer durch den Raum ist eine Schnur gespannt auf der gemalte Bilder aufgehängt wurden. Wir setzen uns zu den Kleinen, schauen uns ihre Aufgaben an, lassen uns auf Tamil Geschichten erzählen. Englisch wird eigentlich gar nicht gesprochen also wird das Ganze zu einem Englisch-Tamil-Zeichensprache-Mix und sorgt für viele kleine kichernde Kinder.
In Indien wurde ein neues System eingeführt, dass sich „activity-based learning“ nennt. Die Kinder erarbeiten sich viel selbstständig, es gibt ein Kartensystem, dass sie in individuellem Tempo durcharbeiten können, alleine oder in Gruppen. Die Lehrkraft steht für Fragen zur Verfügung, hält sich aber hauptsächlich im Hintergrund. Auf den Karten lassen sich die unterschiedlichsten Dinge finden, Buchstaben, kleine Vokabellisten, Tierbilder, Kurzgeschichten, Fragen und Antworten. Neben Heften sind auch kleine Tafeln vorhanden, auf denen die Kleinen Schreiben üben. Die Kinder zeigen uns aufgeregt die Tierkarten und so sprechen wir uns abwechselnd den Tiernamen auf Tamil und auf Englisch vor. Sie lachen, wenn wir etwas falsch aussprechen und wir lachen mit, weil es sich aus unserem Mund wirklich sehr anders anhört :-). Nach einer halben Stunde verlassen wir trotz Protest der Kinder die Klasse und besuchen die nächste. Im Laufe des Vormittags besuchen wir vier Klassen, sehen Mathe, Tamil, Englisch und 'Science' – Unterricht, unterhalten uns mit den Lehrern über unsere und ihre Arbeit und über Indien, lesen mit den Kindern Geschichten und können uns mit den 3. und 4. - Klässlern sogar ein wenig auf Englisch unterhalten. Sie erzählen uns, was ihr Lieblingsfach ist, bringen uns Wörter auf Tamil bei, entschuldigen sich, dass sie leider nur 'small English' sprechen und erzählen, dass sie uns oft sehen, wenn wir mit unseren Mädchen zum Fahrrad fahren auf den Sandplatz außerhalb des Dorfes laufen. In der Pause werden wir umringt von Kindern, alle fassen unsere Hände, wollen uns ihre Freunde zeigen und ihr Lieblingsspiel mit uns spielen. Auch die Lehrer wollen unbedingt ein Foto mit den 'white girls' machen und wir merken mal wieder, dass es in Indien einfach nicht möglich ist unauffällig zu bleiben.
Nach der Pause besuchen wir die 5. Klasse, die in Indien ebenfalls noch zur Grundschule gehört. Hier gibt es kein Kartensystem mehr, die Kinder sitzen an kleinen Schulbänken und als wir den Raum betreten, lernen sie gerade für das Englisch-Examen, dass sie am Nachmittag schreiben werden, das bedeutet, dass sie den Fragebogen, den sie in der Hand haben auswendig lernen, denn die gleichen Fragen werden in der Arbeit kommen. Im Gegensatz zum deutschen Schulsystem liegt der Schwerpunkt nicht auf Anwendungsaufgaben sondern eher auf dem Auswendig lernen.
Nach einem langen Vormittag verlassen wir die Schule unter viel Winken und die lauten „Aka Bye, Bye“ - Ruhe (Aka = große Schwester) schallen noch für einige Zeit über die sandige Hauptstraße unseres Dorfes.
Auch der andere Schule im Dorf statten wir einen Besuch ab. Pünktlich zum Morgenappell sind auch wir auf dem sandigen Schulhof. Nach Klassen geordnet, Mädchen und Jungs getrennt, stehen die Kinder ordentlich aufgereiht in ihren blauen Schuluniformen auf dem Hof. Drei Jungs stehen vor der Gruppe, einer spricht etwas vor, es wird im Sprechchor nachgesprochen, mit der Hand vor der Brust, dem Land wird die Treue geschworen. Es erinnert uns ein wenig an einen militärischen Appell und wir wissen nicht so ganz, wie wir das Gefühl in diesem Moment einordnen sollen. Anschließend folgt ein Gebet. Einer der vorne stehenden Jungs liest laut etwas aus der Zeitung vor. Als ein Junge in den Reihen sich nicht ordentlich benimmt, geht eine der Lehrerinnen auf ihn zu und versetzt ihm einen festen Schlag auf den Rücken. Wir wussten, dass in indischen Schulen das Schlagen immer noch als Disziplinarmaßnahme angesehen wird, allerdings hätten wir nicht gedacht, dass wir so schnell damit konfrontiert werden. Es ist irgendwie ein Gefühl von Machtlosigkeit, dass uns an diesem Morgen auf dem Schulhof vor den ganzen Kindern überfällt. Machtlosigkeit gegenüber einem System, dass sehr stark von Obrigkeitsdenken und autoritären Strukturen bestimmt wird...
Nach einer Viertelstunde gehen die Kinder in ihre Klassen. Auch hier besuchen wir jede Klasse ungefähr zwanzig Minuten lang. Mädchen und Jungen sitzen getrennt auf ihren Schulbänken und bombardieren uns mit vielen Fragen, wir erklären ihnen deshalb erst mal wer wir sind und was wir machen. Die Klassenräume sind relativ bunt gestaltet, überall hängen Bilder und Plakate und es herrscht eigentlich eine freundliche Atmosphäre. Der Unterricht, an dem wir teilnehmen, besteht hauptsächlich aus Frontalunterricht. Die Kinder erzählen außerdem, dass es ein 'rank - system' gebe. Der Schüler oder die Schülerin mit der besten Noten ist auf dem ersten Platz, danach folgt der zweite, dritte, vierte, bis hin zum letzten Platz und so hat jeder in der Klasse seine eigene Stellung und alle wissen darüber Bescheid. Auch hier bekommen wir einen guten Einblick in die Art des Unterrichts, dürfen viele Fragen beantworten, was man in Deutschland so isst und was unser Lieblingsspiel ist, ob wir Indien mögen und wie lange wir hier bleiben. Zum Abschluss spielen wir mit jeder Klasse ein großes Gemeinschaftsspiel und so endet auch dieser Schultag.
Es gefällt uns einen Einblick in das Schulleben der Kinder zu bekommen, einerseits um einen Vergleich zu Deutschland zu ziehen, andererseits um auch an diesem Teil des Lebens unserer Mädchen teilzunehmen. Und unser Besuch scheint nicht nur für uns eindrucksvoll gewesen zu sein. Laufen wir jetzt durch unser Dorf, grüßen uns sämtliche Kinder und schreien fröhlich 'Lenaka, Monaka, hiiii, how are you'. :-)
Nach einem Wochenende, an dem wir die Nachmittage mit Basteln verbringen, besuchen wir die Schule der älteren Mädchen, die in die 9. und 10. Klasse gehen. Diese Schule liegt nicht mehr in unserem Dorf und wir fahren 20 Minuten mit dem Bus, vorbei an Feldern, Dörfern, Hütten, Ziegenscharen und gelangen schließlich in ein kleines Städtchen. Dort befindet sich eine 'Higher Secondary School' für die 9. bis 12. Klassen.
Wir betreten das riesige Schulgelände und begrüßen zuerst den Direktor. Eine Lehrerin führt uns durchs Schulgebäude. Sie erzählt, dass an dieser Schule 2300 Schüler seien, allerdings nur 45 Lehrer, was wir auch sofort bemerken, als wir den ersten Raum betreten, eine 9. Klasse. 62 Kinder sitzen in dem Raum, Mädchen und Jungs wieder einmal getrennt und auch die Schuluniformen kennen wir schon. Zu acht sitzen sie teilweise in einer Reihe, zum Schreiben ist nicht viel Platz.
Fünf neunte Klassen sehen wir uns insgesamt an, um auch in jeder Klasse unserer Mädchen gewesen zu sein, alle mit ähnlich vielen Schülern. Tamil, Englisch, Mathe, Social Science und Science, die meisten Fächer decken wir mit unserem Besuch ab. Meistens wird etwas diktiert oder der Lehrer steht an der Tafel, die Schüler sprechen im Chor nach. Es wirkt alles sehr theoretisch, mündliche Noten, so wie wir es kennen, gibt es hier nicht, nur die schriftliche Leistung zählt. Wir sehen überfüllte Klassen, bei denen manche Kinder auf dem Boden sitzen, weil kein Platz mehr in den Schulbänken für sie ist. Es herrscht ein unruhiges Gemurmel und auch von draußen dringen jede Menge Geräusche durch die Gitterfenster, die man nicht schließen kann. Auch eine zehnte und eine zwölfte Klasse besuchen wir, hier herrscht ein ähnliches Bild. Die Lehrer sind bemüht für Ruhe zu sorgen und wir vermuten, dass sie auch nicht alle Namen können. Und während wir ebenfalls eingereiht zwischen den Schülern auf einer Schulbank sitzen, werden wir das Gefühl nicht los, dass man hier im Unterricht sehr untergehen kann.
Mit einem Gefühl von Dankbarkeit verlassen wir diese riesige Schule, wir sind dankbar für unsere Schulen in Deutschland und sind froh darüber, dass wir nie mehr als 30 Schüler in einer Klasse hatten, dass die Lehrer unsere Namen wussten und man irgendwie eine Beziehung zu ihnen hatte - egal ob mal besser oder mal schlechter.