Donnerstag, 13. Oktober 2011

Limetten, Lichterketten und eine Hochzeit

So langsam beginnen wir das Leben hier vorsichtig anzutasten. Die „window period“ ist vorbei und jetzt beginnt der wahre Alltag. Englischunterricht steht ab Oktober auf dem Programm doch nach einer Woche Examen haben die Mädchen erst einmal eine Woche Ferien. Aufgeregt erzählen sie uns bereits Samstags, dass sie morgen nach Hause gehen, hüpfen herum, schreien fast vor Vorfreude auf ihre Eltern, Geschwister und ihr altes aber doch so vertrautes Umfeld. Aber nicht alle der Mädchen können das von sich behaupten und zwischen den ausgelassenen Stimmen sitzen einige, die den Trubel zu ignorieren versuchen. 'No sister, I have no home'. Wir müssen schlucken. Dass einige der Mädchen Waisen sind, wussten wir aber es auszusprechen macht es irgendwie real und man hat nun ein Gesicht vor Augen, dass sich vorher hinter diesem Wort versteckt hat. Glücklich sind wir als am nächsten Tag doch jedes unserer Mädchen abgeholt wird, von Tante, Oma oder älterem Bruder. Stolz stellt man uns Eltern oder Verwandte vor, wir werden angelächelt, begrüßt und in diesem Moment bedauern wir es kein Tamil zu verstehen.
Das rosa Haus des Abhaya Students Shelter wirkt ein wenig verlassen ohne das Kindergeschrei und ohne all die zahlreichen 'good morning sister', 'good afternoon sister', 'good night sister' – Rufe. Doch auch wir lassen die Zeit nicht ungenutzt.



Limetten zerquetschen =D
Puffed rice
Es ist Pooja, ein hinduistisches Fest, welches neun Tage andauert. Am neunten Tag ist es üblich alle Geräte, Werkzeuge und andere nützlichen Dinge, die an einem normalen Arbeitstag benötigt werden, zu preisen. Wir feiern mit den Mitarbeitern NMCT's, im Office ist ein kleiner Altar aufgebaut. Bananen und andere Früchte, Schulbücher, Laptops, goldene Kerzenhalter, riesige Palmenblätter und Zuckerrohr türmen sich auf ihm auf. Räucherstäbchen erfüllen den kleinen Raum sofort mit einem fruchtigen intensiven Geruch. Eine Kokosnuss wird aufgeschnitten, der Saft wird über den Altar geträufelt. Ein kleines Feuer wird entzündet und auf einem Teller einige Male herum geschwenkt.Geschmückt mit einem rot-gelben Punkt auf der Stirn verlassen wir den Raum für den zweiten Teil der Prozession. Aufgereiht stehen draußen Autos, Motorräder, Mofas und sieh an – unsere knallpinken neuen Fahrräder, dekoriert mit gelben Blumen und blitzblank geputzt. Auf dem Boden sind Rangolis gemalt, bunte Mandalas aus Kreide. Limetten werden vor die Räder jedes Fahrzeuges drapiert. Zerquetscht man die Frucht, ist das Fahrzeug gesegnet. Gespannt schauen wir zu, wie die dekorierten Autos und Motorräder nacheinander unter Jubel und unter den Augen der Mitarbeiter sowie zahlreichen Dorfbewohnern, die sich dieses Spektakel natürlich nicht entgehen lassen, den Innenhof verlassen. 'Now you!'. Ein wenig überrascht setzen wir uns auf unsere Fahrräder und sind der Meinung, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit den dünnen Rädern die Limette zu zerquetschen. Ist es auch. Aber mit Hilfe zweier NMCT- Staffs ist das natürlich 'no problem' – wie so alles hier in Indien. Problem, dieses Wort scheint ein Fremdwort zu sein. Sollte es doch mal eins geben, wird auf jeden Fall eine Lösung gefunden. So wie auch in unserem Fall. Unter Lachen sind also auch unsere Fahrräder gesegnet und uns kann in dem chaotischen Straßenverkehr sicherlich nichts mehr zustoßen! :-) Wir essen 'puffed rice', der uns an die deutschen Reiscracker erinnert, und eine Art Kichererbsen, dessen Name wir uns nicht merken konnten aber es schmeckt und das ist die Hauptsache. Zum Abendessen sind wir bei Seetha und Sankar eingeladen. Dass wir auch dort übernachten, erfahren wir ganze 5 Minuten, bevor wir losfahren. Etwas überrascht und in voller Eile packen wir das Nötigste zusammen und machen uns voller Neugierde auf den Weg. Wir machen einen kurzen Abstecher zu Seethas Cousin und bewundern den riesigen Altar in einem der Zimmer, der extra für Pooja aufgebaut wurde. Götterfiguren en masse in allen Variationen und Farben, Lametta, das sogar am Ventilator angebracht wurde, abwechselnd bunt aufleuchtende Lichterketten, Früchte und andere Opfergaben – was in Deutschland die Leute durch den vielen Kitsch verschrecken würde, hat auf uns irgendwie eine schöne, faszinierende Wirkung und versetzt uns sogar ein kleines bisschen in Vor-Weihnachtsstimmung. Ein wunderschöner Abend im Hause Sankaranarayanan (der Name unseres Directors :-) ) folgt - mit vielen interessanten Gesprächen, den ersten leicht missglückten Versuchen Dosai, eine Art dünner, knuspriger Pfannkuchen, herzustellen, einem leckeren Abendessen und einer abschließenden Runde UNO.



Lena macht Dosai!
Mona beim Eröffnen der Zeremonie
Office - Altar

An einem anderen Tag fahren wir in die Nähe der Kokosnussfarm, dort soll ein neues Büro eröffnet werden, dass die Arbeit in dem Dorf der Ureinwohner zukünftig erleichtern wird. Es folgt eine ähnliche Prozession wie bei Pooja, auch hier ist ein kleiner Altar aufgebaut, und nach einer kleinen Überraschungsdusche, denn der Priester spritzt uns eine ordentliche Ladung Wasser ins Gesicht, verbringen wir den Tag mit den Menschen dort. Es ist heiß und wir setzen uns für einige Zeit an einen nahegelegenen Tümpel. Zurück geht es mit einem Jeep über die holprigsten Bergstraßen Coimbatores.

Hallo!

Hochzeitszeremonie
Dann kommt ein Tag, auf den wir uns schon länger sehr gefreut haben. Naga* (*Name geändert), eine Mitarbeiterin NMCTs, nimmt uns mit zu einem 60. Geburtstag einer Frau, der hier zelebriert wird wie eine zweite Hochzeit. Nach frühem Aufstehen, zwei Busfahrten und einer unendlich erscheinenden Taxifahrt erreichen wir den Tempel, in dem das Fest stattfindet. Auch hier erwartet uns üblicherweise ein reichhaltiges indisches Frühstück und wir sind froh, dass wir 'genug' bereits auf Tamil sagen können, da sich auf unserem Bananenblatt die unterschiedlichsten Speisen türmen und man uns trotzdem immer wieder Berge an Essen drauf schaufelt ('you eat now!).
die Räucherbanane =D
Wir sitzen auf dem Boden und schauen gespannt dem hochzeitlichen Geschehen zu, lauschen den Gebeten des Priesters, der es sich nicht nehmen lässt, zwischendurch mal ordentlich zu rülpsen. :-) Auch hier wieder ein Altar, der von unzähligen Früchten und Blumen übersät ist. Davor eine große Auswahl an Opfergaben und Geschenken für das Brautpaar. Dieses dekoriert den Altar mit rosa Blumenblättern, tauscht Blumenketten aus, entzündet ein Feuer in der Mitte des Tempels. Und wie immer können wir nur staunen über diese schöne aber doch so andere Kultur. Hinter einem alten Mann, der auf seiner Trommel den Takt vorgibt, umrundet die ganze Hochzeitsgesellschaft den Tempel, um dann den - unserer Meinung nach - besten Teil dieser Hochzeit zu vollziehen. Traditionell bekommt jeder Gast ein Gefäß gefüllt mit Wasser und gießt es dem Brautpaar über die Köpfe.
Dies ist ein Segen und drückt aus, dass man ihnen ein langes und frohes Leben wünscht. Bei rund 60 Gästen dauert das einige Zeit und hinterlässt ein völlig durchnässtes Brautpaar. Und wir fragen uns, wie das wohl ist, wenn 500 – 1000 Gäste eingeladen sind, was durchaus vorkommen kann bei einer jungen Hochzeit, wie Naga* uns mitteilt. Es wird sich überschwänglich für unseren Besuch bedankt und auch wir freuen uns, dass wir an der Zeremonie teilhaben durften und nun wieder um eine Erfahrung reicher sind. Nach etlichen Fotos mit den 'white girls', bei denen wir mal wieder feststellen, dass Inder auf Fotos nicht so gerne lächeln :-), und vielen Gesprächen mit den anderen Gästen über unsere Herkunft und das indische Essen, lädt man uns zum Mittagessen ein. Natürlich lehnen wir das nicht ab und nach einer sehr gequetschten Autofahrt aber einem netten Fahrer, der uns gleich in seine Bäckerei einlädt und uns die Geschichte von allen seinen Familienmitgliedern erzählt, führt unser Weg erst mal zu Nagas* Zuhause, da das Essen einige Vorbereitungszeit braucht. Wir essen Orangen und Granatapfel, lachen und unterhalten uns lange mit Naga*. Als wir sie fragen, ob sie Kinder hat, erzählt sie uns ihre Geschichte. Sie verlor nicht nur ihren Mann sondern auch alle ihre Kinder durch Herzversagen oder ähnliche Schicksalsschläge. Trotz diesen schrecklichen Dingen, die ihr widerfahren sind, ist sie eine starke Frau, die ihre Aufgabe gefunden hat und ihr Leben auf eine faszinierende Art und Weise regelt. Wir bewundern sie dafür!
die traditionelle Hochzeits'dusche' =D




Nach einem kurzen Mittagsschlaf auf dem Boden ('you sleep now!' :-)) erwartet uns ein üppiges Mittagessen im nahegelegenen Haus des Brautpaars. Während wir essen, erzählt man uns, dass einige Wochen zuvor eine Schlange ins Haus gekrochen sei und zeigt uns stolz Fotos des kleinen Sohns, der sie wie eine Trophäe in der Hand hält. Wir werden gefragt, ob wir Schlangen in Deutschland essen und etwas verblüfft über diese Annahme klären wir die vielen fragenden Gesichter lachend über die deutsche Esskultur auf. Die indische Gastfreundlichkeit beeindruckt uns wieder einmal aufs Neue, die Herzlichkeit und Wärme mit der man seinen Mitmenschen hier begegnet. Wir fühlen uns wohl bei diesen Menschen, die uns so entgegen kommen.
Naga* und wir














Wir geben unseren ersten Englischunterricht, ohne Buch, ohne Blätter zum Austeilen, ohne Vokabellisten. Eine Herausforderung, die viel Kreativität fordert und eine Menge Spaß mit sich bringt. Ein weiteres Projekt auf unserer Oktober To-do-Liste ist das Gestalten von 1000 Weihnachts- und Neujahrsgrußkarten für Deutschland. Um schöne Motive zu erhalten, geben wir 'drawing classes' zu verschiedenen Themen. Diese werden dann eingescannt, vervielfältigt, ausgedruckt und auf die Grußkarten geklebt.
Eine Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt aber wie immer steht man uns auch hier hilfsbereit zur Seite... :-)


Dear Seetha and Sankar,

we'd like to thank you for the invitation to your home, for your hospitality and the open dialog. We are very happy that you offer us so many possibilities to get an insight in the Indian culture. It is a pleasure for us to be here in Abhaya and to get your encouragement. We can talk to you everytime if there is any need and that makes us feel that we are in good hands. Thank you!
Seetha
Sankar


Dear Viji,
we are glad to have you as our mentor. Thank you for all the answers you give us to our questions, for your support and help. We always have a lot of fun with you and we hope that our Tamil improves soon ;-) We are looking forward to all the special moments we will spend with you in the next months especially on Deepavali!

Dear Naga*,
we are very thankful for all the new impressions we got on the marriage. Thank you for attending us, we enjoyed the day with you a lot!


Bis zum nächsten Mal :-)