Donnerstag, 22. Dezember 2011

Wiedersehen, Familienzuwachs und eine Jeepsafari


Es ist Mitte November und plötzlich ist es soweit – das Zwischenseminar steht vor der Tür, obwohl es sich doch zu Anfang unserer Zeit hier so weit entfernt angefühlt hat. Es macht uns bewusst, dass seitdem zweieinhalb Monate vergangen sind, die geprägt waren von vielen großen und kleinen Abenteuern, vor allem von unvergesslichen Erfahrungen und Erlebnissen, die man gerne mit anderen teilen möchte.
Kaffeeklatsch mit den anderen Freiwilligen
Das Seminar kommt also zur richtigen Zeit. Wir freuen uns auf das Wiedersehen, die Erzählungen der anderen „Brückenbauer“ und Freiwilligen aus unterschiedlichen Organisationen, die zum Seminar dazu stoßen werden, die Kommunikation ohne Sprach-Barrikaden und vor allem das Beisammensein.

Das Taxi wartet hupend vor der Tür. Wir sind die Glücklichen, die in der Stadt wohnen, in der der „Midterm-Workshop“ stattfindet und den Luxus genießen können, nach einer 20 minütigen Taxi-Fahrt am Ziel zu sein, wohingegen andere ganze Tage und Nächte im Zug verbringen müssen.
Voller Vorfreude auf das Wiedersehen verstauen wir unsere sieben Sachen im Auto, doch steht uns der schwerste Teil dieses Tages noch bevor: der erste Abschied von unseren Sisters für eine etwas längere Zeit. Das Herz wird uns schwer, wenn wir daran denken, dass wir zwei Geburtstage verpassen, allerlei ´Cycling und English Classes´ sowie die schönen alltäglichen Momente mit unseren Mädchen. Wir wagen nicht, uns unseren endgültigen Abschied in ferner Zukunft auszumalen.
Auf der anderen Seite liegen ebenso fröhliche und spaßige Tage mit den anderen Brückenbauern vor uns!
Fr. Tietz von der KKS und Malathi, unsere indische Mentorin
wir beim Erzählen :-)
Wir schließen die Tür des Taxis, kurbeln das Fenster herunter, winken bis man das Abhaya schon längst nicht mehr sieht und lassen schließlich die Häuser, Läden, Straßen, an denen wir vorbeifahren, auf uns wirken – Häuser, Läden, Straßen, die uns wohl vertraut sind in einer Umgebung, die wir in den letzten Monaten als unsere „neue Heimat“ zu schätzen gelernt haben.
Zwanzig Minuten sind keine besonders lange Zeit (vor allem nicht in Indien) und schon taucht in Mitten einer grünen Berglandschaft das rosarote (!) Seminargebäude des KKIDs auf.
Wir machen uns auf den Weg zu unserem Zimmer – noch ist es still in dem Teil des Gebäudes, das wenige Zeit später von Stimmengewirr und Lachen erfüllt sein wird, doch – wie gesagt - das hält nicht lange an. Wir sind nicht die ersten Ankömmlinge und so werden wir lautstark begrüßt und herzlich in die Arme geschlossen. Aufgrund des großen Redebedarfs finden die ersten Gespräche direkt auf dem Fußboden des Gangs vor unserem Zimmern statt :-)
In großer Eile packen wir unsere Rucksäcke aus, man möchte ja schließlich nichts von dem verpassen, was die anderen zu erzählen haben.
Und so folgt eine lange geschichtenreiche Nacht und ein nächster Morgen, an dem das Seminar anfängt.
Wir beginnen mit einer Vorstellungsrunde, wir die „Kübelaner“ und die Freiwilligen aus den anderen Organisationen stellen uns gegenseitig unsere Projekte und Arbeitsplätze vor, erzählen von unserem Alltagsleben, unseren bisherigen Erfahrungen und ebenso von unseren Plänen, Vorhaben und Zielen.
In den nächsten Stunden und Tagen folgen Seminareinheiten zu Themen wie dem Englischunterricht oder kulturellen Unterschieden, wir versuchen uns an der Evaluation der letzten Monate (wobei es ganz schön schwierig ist, alles neu Erlebte unter einen Hut zu bringen),
wir reflektieren, führen Partnergespräche oder sprechen ebenso über Erwartungen, die nicht ganz erfüllt wurden oder Enttäuschungen. Es tut unglaublich gut, sich mit Leuten auszutauschen, denen es so ähnlich geht wie uns – die dasselbe Land, dieselbe Kultur und ein ähnliches Projekt erleben.
Erfahrungen einander zu erzählen ist eine Sache – Erfahrungen miteinander zu teilen eine andere. So machen wir uns auf, fahren in Jeeps über unebene und unbefestigte Straßen in abgeschnittene Ureinwohnerdörfer, in denen wir selbst herausfinden sollen, was NGOs vor Ort bewältigen und wie die Menschen dort ihr Leben zu organisieren wissen. Wir sind – wie schon oft – beeindruckt von der Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen wie auch ihrer Kreativität, der keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen, geht es darum, eine Dorfschule aufzubauen oder die Wasserversorgung zu optimieren.
Und wir lernen noch einen ganz – für uns: neuen –anderen Aspekt der indischen Kultur kennen.
Wir statten der großen noblen Shopping Mall in Coimbatore einen Besuch ab. Völlig fremd fühlen wir uns in dieser Einkaufs-Welt, alles wirkt so surreal, als wären es zwei verschiedene Welten. Viele kleine und große Läden mit leuchtend bunten Leuchtreklamen vieler westlicher Marken reihen sich aneinander. Es werden Konsumgüter angeboten, von denen die Menschen in den nahegelegenen Slums nur träumen können. Wir fühlen uns unbehaglich, haben wir uns in den letzten Monaten doch an etwas Anderes gewöhnt.
v.l.: Mona, Annik, Lena und Lena :-)
Eine Woche vergeht wie im Flug und der Abschied naht, doch nicht von allen: Annik und Lena kehren mit uns zurück, denn sie machen ihren Interproject-Visit bei uns im Abhaya Students Shelter.
so viel zu dem chaotisch-gemütlichen Zustand =D
Annik und Lena „bauen ihre Brücken“ in Dorfschulen, wo sie Englisch-Unterricht geben, mit den Kindern malen, basteln und spielen. Doch nicht nur dort – sie sind ebenso Brückenbauer im Team ihrer Organisation JKS. Sie gehen mit bei Field Visits, besuchen andere Projekte ihrer Organisation, helfen im Büro und erleben den indischen Alltag in einer NGO.
Sie interessieren sich für den Alltag im Abhaya, unsere Aufgaben dort und weitere Projekte NMCTs - und genau das soll ihnen der Interproject-Visit für 4 Tage nahe bringen.

So kehren nach dem Seminar 4 müde große Sisters ins Abhaya zurück, die von 29 kleinen Sisters herzlich empfangen und in die Arme geschlossen werden.

Wir wandeln unser kleines gemütliches Zimmer in eine Schlafstätte für 4 um, das schon nach kurzer Zeit einen chaotisch-gemütlichen Zustand annimmt – doch an Schlaf ist nicht zu denken! Schließlich warten die Mädchen darauf, den „Familienzuwachs“ richtig kennenzulernen. Und so folgen allerlei Stunden voller Spiel und Spaß, gemeinsames Fahrradfahren und viele schöne Momente.
Und so beginnt auch diese schöne und lustige Zeit wie im Fluge zu vergehen!
auf gehts zur Safari =D
Wir passieren Straßen, die gesäumt sind von Palmen, Sträuchern und Büschen. Wohin uns dieser Weg führt? Auf die Kokosnussfarm Gopanari, die sich in der Nähe des Office für das Tribal-Projekt befindet. Wir sind gerne dort. Im Gegensatz zum Stadtleben findet man hier eine kleine Ruhe-Oase und schattige Plätze, an denen man sich einfach vom Alltag ausklinken kann.
Doch das steht nicht auf dem Plan, denn uns erwartet ein kleines Abenteuer: wir fahren mit dem Jeep in ein Dorf, aus dem eines unserer Mädchen stammt. Genauer gesagt: wir fahren zwar mit dem Jeep, jedoch nicht IM Jeep, sondern oben drauf. :-)
Wir stellen fest, dass es ist gar nicht so einfach ist, ein Jeep-Dach zu erklimmen. Nach einigen Kletterübungen und zahlreichen Bemühungen befinden wir uns auf dem Dachträger in einigermaßen passablen Sitzpositionen.

Wir fahren durch eine sehr grüne und naturbelassene Landschaft, es gibt kaum befestigte Straßen und so kommt es, dass wir auch den einen oder anderen Bach durchqueren müssen. Wir genießen den sagenhaften Ausblick, auch wenn sich unsere Gesäßknochen auf diesen Schotter-Pisten sehr wohl bemerkbar machen. :-)
Auch in diesem Dorf werden wir herzlich empfangen und uns wird die Umgebung gezeigt. Viele kleine Häuser, manche befinden sich nicht mehr in ihrem besten Zustand, reihen sich aneinander. Darunter befindet sich sogar eine Dorfschule. In diese geht der Bruder des Mädchens, der uns auch das Haus der Familie zeigt. Es besteht aus ehemals einem Raum, der durch eine Trennwand in zwei Räumlichkeiten unterteilt wird. Im Eingangsbereich befindet sich die Schlafstätte, die tagsüber anderweitig genutzt werden kann, da die Bastmatten zusammengerollt in der Ecke stehen. Im hinteren Teil befinden sich die Habseligkeiten der Familie, außerdem die Kochstelle mit Töpfen und Schüsseln. Fenster gibt es nicht, der kleine Raum ist dunkel und es wird angemerkt, dass neben der gesamten Familie auch die Ziegen hier schlafen.
Der kleine Junge erzählt uns währenddessen munter auf Tamil, dass seine Mutter gerade die Herde umher treibt und sein Vater auf Arbeit sei. Seine große Schwester ist 18 und schon verheiratet.
Später erfahren wir, dass der Vater sein erarbeitetes Geld für Alkohol ausgibt.

Das führt uns wieder einmal vor Augen, aus welchen Verhältnissen unsere Mädchen stammen und was für Vergangenheiten hinter ihnen liegen.


Am darauffolgenden Tag lernen wir das Tai-Project NMCTs kennen. Hier wird mit ´transgenders´, dem so genannten „dritten Geschlecht“ Indiens, gearbeitet. Dabei handelt es sich um Männer mit keiner eindeutigen Geschlechtsidentität. Sie kleiden und verhalten sich weiblich; wofür sich manche auch gefährlichen Operationen unterziehen. Meist verdienen sie ihren Lebensunterhalt durch Tanzen, durch Segnungen auf Hochzeiten, bei Hauseinweihungen und nach der Geburt von Söhnen. Allerdings stehen den ´transgenders´ nur wenige Berufsfelder offen, wodurch viele durch Prostitution ihr Geld verdienen. Hierbei infizieren sich viele mit HIV. Oft müssen sie Diskriminierung und die Marginalisation aus der indischen Gesellschaft ertragen.
NMCT bietet zum Beispiel medizinische Versorgung (unter anderem HIV-Tests), psychologische Betreuung oder seriöse Jobangebote. Wir erleben einen sehr eindrucksvollen Tag und sind beeindruckt von der Offenheit der lieben Lakshmi* (*Name geändert), die uns von ihrem Leben als ´transgender´ berichtet und ihre Tanzkünste zur Schau stellt.

Piiizzzaaaaaaa!
Mit dem Bus fahren wir in die Stadt. Wir wollen Annik und Lena Coimbatore zeigen und als erstes führt unser Weg in die ´TownHall´, das Herzen Coimbatores, mit vielen kleinen Straßen und Gässchen, in denen sich noch kleinere Läden und Straßenstände befinden. Hier herrscht stets ein munteres Treiben und wir sind jedes Mal aufs Neue beeindruckt von dem Angebot der unzähligen bunten Stoffe, glitzernden Armreifen, die man Bangles nennt, Ohrringen und allerlei Plunder.
Doch natürlich wollen wir ihnen auch gerne noch unsere anderen Lieblingsplätze zeigen und so kommt es, dass wir glücklich nach einem ausgiebigen Stadtbummel bei Domino´s sitzen und genüsslich unsere Pizzas verspeisen. Das muss eben auch manchmal sein :-) Auch Malathi und ihrer Familie statten wir einen Besuch ab und kochen 'german' Schokoladenpudding, den wir mit der gesamten Familie teilen. Und es erstaunt uns, wie gut wir es hinbekommen aus einer kleinen Packung Schokoladenpudding elf zufriedenstellende Portionen zu gewinnen.Wir fühlen uns wohl und genießen die Gespräche mit unserer MOM (Mentor of Mentors). Anschließend sind wir bei unserem Director zum Abendessen eingeladen. Wie immer kocht Seetha ein unglaublich leckeres Essen. Es ist ein schöner Abend und wir haben viel Spaß.
Wir begleiten die Mädels zur Schule
Die vier Tage neigen sich ihrem Ende zu. Unsere Mädchen haben ihre zwei „neuen Sisters“ schon ins Herz geschlossen und der Abschied fällt nicht leicht. Mit gepackten Rucksäcken wollen sich die beiden letztendlich auf den langen Weg in ihr Projekt machen, doch sie kommen nicht weit. Es gibt ein Problem mit den Zugtickets, besser gesagt: sie haben keine reservierten Sitzplätze im Zug, stehen noch auf der Warteliste und das kann bei einer Fahrt von 30 Stunden doch etwas unangenehm werden und außerdem auch sehr riskant. Bis sie schließlich ein Rückfahrt-Ticket erhalten, erleben wir noch 3 weitere schöne, gemeinsame Tage im Abhaya. Das freut natürlich auch den Rest der Abhaya-Familie und so ist der Sinn des Interprojekt-Visits auf jeden Fall erfüllt worden: sie lernen unseren Alltag wirklich voll und ganz kennen. :-)

Wir wünschen allen frohe Weihnachten mit viel Schnee und leckeren Plätzchen! Allerliebste Grüße aus Indien, Lena und Mona
Weihnachten unter Palmen - wir sind schon gespannt!