Wir fahren zu einer „Tribalvillage“, zwei der Mädchen des Abhaya Student Shelters haben hier ihr ehemaliges Zuhause. Wir steigen aus dem Auto, die Landschaft ist wunderschön, überall sind Palmen und im Hintergrund kann man die Berge Coimbatores vernehmen. Die Häuser sind einfach, Steinhäuser mit Flachdach, manche weiß, andere sind außen mit blauer oder türkiser Farbe bemalt, die bereits abgeblättert ist. Ein zementierter Weg zieht sich durch das Dorf. Doch trotzdem wirkt alles sehr idyllisch, macht einen harmonischen und friedlichen Eindruck. Eine angenehme Brise weht uns ins Gesicht, es ist nicht so heiß hier oben, wie in der Stadt sondern angenehm warm, die Luftfeuchtigkeit ist geringer. Shanti und Sudha rennen auf uns zu, man will uns sofort das heimische Dorf zeigen. Shantis Mutter wird uns vorgestellt, sie sieht alt aus, mitgenommen, vom Leben geprägt. Der Blick ist träge, eingewickelt in einen blauen Sari macht sie einen erschöpften Eindruck. Wir erfahren, dass sie krank ist, nicht schlafen kann seit Wochen. Woran das liegt weiß keiner. Dann lernen wir Shantis Schwester kennen, sie scheint älter als Shanti zu sein, lächelt uns freundlich aber zurückhaltend an. Ich mache ein Foto von beiden, zeige es ihnen, sie wackeln zustimmend mit dem Kopf, wir lächeln zurück. Man versteht sich auf diese Weise. Ein Mann, der noch jung zu sein scheint, kommt auf uns zu, aufgeregt, er erzählt uns viel, in seinem Redefluss können wir einige englische Wörter vernehmen. Wir erkennen, dass er sich vorstellen will. Er hat kaum noch Zähne, trägt ein zerrissenes Hemd und einen Lungi, einen knielangen Wickelrock, den man sich umbindet und der hier von vielen Männern getragen wird. Immer wieder wiederholt er einen Satz, will sich auf Englisch bekannt machen, greift nach unseren Händen. Wir sind etwas überfordert, doch in diesem Moment kommt unser Director. Wie aus Ehrfurcht schmeißt sich der junge Mann vor ihm auf die Knie, möchte ihm die Füße küssen. Unser Director zieht ihn hoch, lacht, sagt ihm, das sei nicht nötig. Wir beobachten.
Sudha möchte uns ihr Haus zeigen, beide eines unserer Mädchen an der Hand habend laufen wir ein Stück durchs Dorf. Blicke verfolgen uns, einige Ziegen kreuzen unseren Weg. Sie sind eine gute Investition für jede Familie, man verkauft sie, wenn das Geld aus ist oder nutzt sie zum Eigenverzehr. Eine alte Frau sitzt auf dem Boden vor ihrem Haus unter einem spärlich zusammen gebauten Blätterdach. Ihre Augen verfolgen uns interessiert, ihre Haut weist viele Falten auf, ihr Mund ist rot von Betelnüssen, die man hier als Alternative zu Zigaretten kaut. Wir grüßen sie auf indische Weise, mit gefalteten Händen vor unserer Brust. Erst jetzt lächelt sie. Man freut sich, wenn sich angepasst wird. Es geht weiter. Wir laufen durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern hindurch. Plötzlich Geschrei, ein Mann wirkt aggressiv und aufgebracht, eine alte Frau kreischt ihn empört an, er nimmt sich einen Backstein, hebt ihn zum Wurf an, andere Dorfmitglieder versuchen ihn zu beruhigen, man kann die Spannung, die in der Luft liegt förmlich spüren, es ist laut, wir fühlen uns unwohl, sind mittendrin, verstehen nicht. Shanti lächelt entschuldigend und ein wenig beschämt, sagt, wir werden uns das Haus nicht jetzt anschauen. Seetha ruft uns und wir drehen um. Mit einer braun-weiß gefleckten Babyziege auf dem Arm, kommt sie uns entgegen, damit wir sie streicheln können. Man versucht die Situation zu entschärfen und den Fokus auf etwas anderes zu lenken. Unser Director erklärt, man bekomme hier samstags das Gehalt und dann wird häufig zu viel getrunken. Die Situation kann außer Kontrolle geraten. Im Hintergrund ist es weiterhin unruhig, angespannt. Es ist ein seltsames Gefühl, eine befremdliche Situation. Die Kinder scheinen mit ihren 12 Jahren schon mehr durchgemacht zu haben als wir, die doch einige Jahre älter sind. Wieder kommt der junge Mann auf uns zu, will uns etwas zeigen. Während wir uns langsam zurück zum Auto bewegen, läuft er uns hinterher. Ein junges Mädchen nähert sich, auf dem Arm trägt sie ein Baby. Das Baby ist der Sohn des jungen Mannes, er ist stolz und präsentiert uns sein Kind, möchte ein Foto mit unserem Director machen, danach mit uns. In diesem Moment geht die Batterie des Fotos leer, ein wenig erleichtert gehen wir zum Auto, steigen ein, plötzlich bemüht man sich schnell zu fahren. Ein zweites Mal erklärt man uns ein wenig entschuldigend, das Samstag kein guter Tag ist für Besuche.
Wir fragen uns, wie viele unserer Mädchen wohl ein solches Leben hatten.
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