Donnerstag, 23. Februar 2012

NMCT, Krankenhäuser und HIV

HIV. Jeder von uns kennt diese Krankheit, weiß ungefähr, was im Körper abläuft und wie man sich infiziert. Einen groben Überblick haben viele. Trotzdem spielen die Themen HIV und AIDS in Deutschland keine große Rolle. Die Zahl der Infizierten ist relativ gering und in der Schule wird man über Verhütungsmaßnahmen aufgeklärt. Ab und zu hört man in den Nachrichten davon aber auch das ist eher selten. Im Großen und Ganzen ein Thema, über das man Bescheid weiß aber mit dem man sich oft nicht weiter auseinander setzt.
In Indien hat HIV einen anderen Stellenwert. Die Zahl der Menschen, die mit dem Virus infiziert sind, schwankt zwischen 3 und 5 Millionen, die Dunkelziffer ist weitaus höher. Ein Problem, dem man sich stellen muss. Auch wir waren uns nicht über die Auswirkungen bewusst, in wie weit Krankenhäuser und besonders NGOs in diesem Sinne ihren Beitrag leisten und wie HIV-infizierte Menschen und deren soziales Umfeld mit der Krankheit umgehen.
das Abhaya Students Shelter
NMCT arbeitet in großem Maße mit diesen Menschen zusammen. Verschiedene Projekte bieten Betreuung, Unterstützung und Beratung an. Ein Projekt ist das Abhaya Students Shelter, in dem wir wohnen. Hier leben wir mit den 29 Mädchen, die meisten von ihnen sind von HIV / AIDS betroffen. Das bedeutet nicht, dass sie selbst infiziert sind, oft ist es die Mutter, der Vater, die Großeltern oder die Geschwister, Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen, Tante oder Onkel. Manche sind bereits Halbwaisen, manche Vollwaisen. Bei manchen Mädchen leben noch beide Eltern aber meist sind diese zu arm oder zu geschwächt von der Krankheit, um sich weiterhin um ihre Kinder zu kümmern. Das Abhaya bietet den Mädchen ein festes Dach über dem Kopf, versorgt sie mit Essen, Medizin, Hygieneartikeln, ermöglicht ihnen eine Schulbildung und fördert die individuellen Fähigkeiten der Mädchen.
Wir drehen einen Film über die verschiedenen Arbeitsfelder und Projekte NMCTs, die Entwicklung der letzten Jahre sowie die Kooperation mit Krankenhäusern und Hospizen. Unser Fokus liegt auf HIV. Der Film soll einerseits NMCTs Arbeit zusammenfassen und für Dokumentations- und Werbezwecke genutzt werden. Auf der anderen Seite ist er auch für unsere Rückkehrerarbeit in Deutschland gedacht, um ein Bewusstsein für HIV in Entwicklungsländern zu schaffen und die Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren. 


die Familie in der kleinen Strohhütte, in der sie lebt
Wir fahren mit Sankar und einer Mitarbeiterin des CaSP-Projekts nach Pollachi, dort wohnen zwei unserer Mädchen. Über die Pongalferien sind sie für einige Tage nach Hause gefahren zu ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester. Es ist ein Dorf am Rande einer von Palmen gesäumten Straße. Einige Menschen sitzen in der Sonne, am öffentlichen Wasserhahn wäscht eine Frau ihre Kleidung, ein paar kleine Kinder rennen umher. Vor dem Haus warten bereits die Eltern der Mädchen und begrüßen uns freundlich – auf Tamil, wie sich versteht. Man winkt uns in das Haus, das vielmehr eine Hütte aus Palmenblättern ist. Sankar erzählt uns, dass sie der Familie vor ein paar Monaten eine Plastikplane gegeben haben, damit nicht bei jedem Regen der sowieso schon sehr begrenzte Wohnraum durchnässt. Eine provisorische Wand, die nicht bis zur Decke geschlossen ist, trennt diesen von einem kleinen Stall, in dem eine Kuh haust. Die Tür ist niedrig und wir müssen uns bücken, um in das Zimmer zu gelangen. Fenster gibt es nicht, nur einige wenige Sonnenstrahlen dringen durch die Löcher in dem geflochtenen Netzwerk von Palmenblättern. Wir werden gebeten uns auf eine schmale Liege zu setzen, die einzige in diesem Raum. Aus der Nachbarhütte wird ein Plastikstuhl geholt. Sofort bietet man uns Tee und eine kleine Auswahl an indischen Snacks an. Die indische Gastfreundschaft ist eben überall etabliert, selbst wenn die Menschen kaum etwas haben und man gar nicht wirklich weiß, ob man das Gegebene annehmen soll. 

der Vater zeigt uns seine Medikamente
Und dann beginnt man zu erzählen. Der Vater der Mädchen arbeitete als Baggerfahrer auf Baustellen, viel von seinem niedrigen Lohn gab er für Alkohol aus. Die Familie hungerte. Vor zwei Jahren erfuhr er, dass er HIV-positiv ist. Sankar erklärt, dass er sehr geschwächt war, als NMCT seine Familie identifizierte. Arbeiten konnte er nicht mehr, sondern verbrachte die meiste Zeit des Tages auf der schmalen Liege. Da es kein geregeltes Einkommen mehr gab, hatte die Familie nur wenig zu essen. Die Krankheit nahm sehr viel Aufmerksamkeit der Eltern ein, die Kinder streunten eher im Dorf herum anstatt regelmäßig in die Schule zu gehen. Manjula, die Älteste, kümmerte sich um die Kleinen und versorgte sie. In dem häuslichen Umfeld wirkt sie auch an diesem Tag viel erwachsener als im Abhaya, in dem sie mit den anderen Kindern herumtollt. Als wir fragen, wie sich das Leben seit der Krankheit verändert hat, fängt die Mutter an zu weinen. Sie ist eine dünne Frau, von der Arbeit gezeichnet. Ein Auge fehlt ihr, warum kann man uns nicht erklären. Niemand komme mehr zu Besuch und sie fühle sich schuldig, erzählt sie. HIV ist ein Tabu-Thema in Indien und von HIV betroffene Familien haben oft mit Ausgrenzung und Stigmatisierung zu kämpfen.
die Mädchen in ihrem neuen Zuhause
Es ist nicht selten, dass sich Freunde und Verwandte abwenden so wie auch in diesem Fall. Deshalb leistet NMCT viel Aufklärungsarbeit, um ein Grundverständnis für die Krankheit in der Gesellschaft zu etablieren. Seit einiger Zeit unterstützt unsere NGO die Familie, versorgte den Vater mit den nötigen Medikamenten und nahm die zwei älteren Mädchen, 7 und 12 Jahre alt, im Abhaya Students Shelter auf. Durch die Medikamente hat sich die Situation des Vaters verbessert, er kann mittlerweile aufstehen und hat die Kinder auch schon besucht. Außerdem hat er aufgehört zu trinken. Die Mädchen sind seit 8 Monaten im Heim, sie haben wieder einen geregelten Tagesablauf, gehen in die Schule und bekommen geregelte Mahlzeiten. Sie haben neue Freundinnen gefunden, verbessern ihre schulischen Leistungen, machen Fortschritte im Englisch sprechen, lernten Fahrrad fahren und haben viel Spaß am Malen und Spielen. Es ist schön, die Kleinere der beiden zu sehen, die anfangs nur Tamil gesprochen hat und die sich mittlerweile mit uns auf Englisch unterhält. Und die Ältere, die mit den anderen Mädchen die Köpfe zusammen steckt und viel lacht. Sie haben eine wertvolle Chance bekommen, ihr Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken. 

die Menschen warten auf ihre Behandlung
Wir fahren in eines der staatlichen Krankenhäuser Coimbatores. Dort sind wir mit einem Arzt verabredet, der HIV-infizierte Menschen behandelt. Die Klinik ist ein großer Komplex aus vielen kleineren Gebäuden. Alles ist alt und manches ähnelt eher einer Baustelle als einem Krankenhaus. Wände sind angelaufen, der Putz ist abgebröckelt, vor einigen Gebäuden warten Menschen auf ihre Behandlung, sitzend, auf dem nackten Boden schlafend, essend. Bis zu drei Tage warten sie hier manchmal, erzählt uns Sareswathy, eine Mitarbeiterin NMCTs. Wir betreten das Haus, in dem das Department für sexuell übertragbare Krankeiten ist, welches sich im zweiten Stock befindet. Auch drinnen bietet sich ein ähnliches Bild. Der Boden ist schmutzig, in den Ecken sammelt sich Dreck und an manchen Stellen ist die Wand schwarz verfärbt.
ein Krankentransport
Ob es Schimmel ist, wissen wir nicht. Neben der Treppe befindet sich ein riesiger Stromkasten, Kabel hängen wirr durcheinander, abgegrenzt ist dieser Teil nicht. Über die abgelaufenen Stufen begeben wir uns in den ersten Stock. Ab und zu vibriert der Boden, das komme möglicherweise von einem der Geräte. Die Fenster an der Treppe sind mit ein paar Holzlatten verschlossen worden, die bereits durch gebrochen sind, darüber hängt ein Schild, das uns zu dem Department verweist. Viele Aufklärungsplakate in Tamil und Englisch hängen in dem langen Gang, einige der Angestellten haben ihren Arbeitsplatz auf dem Gang.
auf der Treppe in den zweiten Stock
 In einem Zimmer werden Medikamente ausgegeben, zu denen wir eine kurze Erklärung bekommen, außerdem sprechen wir mit den Mitarbeitern des dort ansässigen Beratungszentrums. Wir bekommen einen Einblick in den Raum, in dem Blut abgenommen wird. Den hygienischen Maßnahmen in Deutschland entspricht das Krankenhaus definitiv nicht, jedoch achtet man bei der Blutabnahme und im Labor sehr auf hygienische Entsorgung und die Sauberkeit der Nadeln, was uns beruhigt. Man merkt, dass die Angestellten das Bestmögliche aus ihrem Job machen. Auch wenn die Gegebenheiten nicht zufrieden stellend sind, erledigen sie ihre Arbeit mit, so wie es uns erscheint, viel persönlichem Engagement und sie beeindrucken uns auf eine gewissen Art und Weise. Denn wie wir bereits wissen, haben sie nicht gerade einen einfachen Job.  

das Büro auf dem Gang - die Mitarbeiter geben ihr Bestes
Wir führen ein Interview mit dem Facharzt für sexuell übertragbare Krankheiten, der einzige Arzt in Coimbatore, der HIV-Patienten behandelt. Er erzählt uns von seinen Erfahrungen mit HIV, von den rund 130.000 Infizierten im Bundesstaat Tamil Nadu, der 66 Millionen Einwohner fasst, und von den lediglich 30 Ärzten, die im Bundesstaat HIV behandeln, von denen 15 in der Hauptstadt Chennai arbeiten. Er erzählt von ART, der antiretroviralen Therapie, die die Virusvermehrung im Körper verlangsamt und merkt an, dass es zu wenig Ärzte für die Masse an Patienten seien und dass es eine signifikante Verbindung zwischen HIV und Armut gebe. Viele Menschen seien nicht aufgeklärt über Verhütung und Schutzmaßnahmen. Er zeigt auf, dass NGOs eine wichtige Stellung einnehmen würden, da sie dort weiter machen würden , wo die limitierte Unterstützung der Regierung aufhöre. Als Beispiel nennt er die Verbindung zwischen dem Department, in dem er arbeitet und NMCT. Die Regierung stellte damals nur das Gebäude zur Verfügung, doch es gab keine finanziellen Mittel für die Stromversorgung. Auf Anfrage des Doktors stellte NMCT den Stromanschluss bereit, so dass ein effizienteres Arbeiten möglich war. Ferner würden oft Patienten weiter vermittelt werden, um eine langfristige Unterstützung von Medikamenten und Ernährung sowie die Fürsorge in weiteren Lebensbereichen zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit mit NGOs sei aus solchen Gründen sehr wichtig.
ein Plakat, das den Menschen Mut macht
Viele Menschen verurteilen ihn, weil er HIV-Patienten behandele, erzählt er am Ende. Aber das interessiere ihn nicht. Auf die Frage, ob er manchmal Angst habe, gibt er uns eine klare Antwort. „Ich habe keine Angst! Oft bin ich der Einzige, der diese Menschen aufnimmt, wenn andere schon längst ihre Türen verschlossen haben. Man sollte diesen Menschen helfen in jeder möglichen Hinsicht. Das ist mein persönlicher Grundsatz.“

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